Jüdisches Leben in Lüneburg

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Ruth Lustig, 1926 - 2025

Ein Nachruf

Wer schon einmal den wunderbaren Film über Ruth Lustig im Museum Lüneburg gesehen hat, hat die Szene vielleicht in Erinnerung: Als ältere Dame, seit Jahrzehnten in Israel lebend, geht sie darin im Jahr 2013 in die Einhorn-Apotheke am Sande – so wie zuletzt als Kind in den 1930er Jahren – und fühlt sich plötzlich in der Zeit zurückgesetzt. Unwillkürlich ist sie enttäuscht, dass man sie nicht freudig begrüßt wie damals, als sie als kleine Tochter des Zahnarztes in der Apotheke aus- und einging: Ich bin doch die Ruth Marx, erkennt ihr mich denn nicht?

Ruth Lustig geb. Marx wurde 1926 in Lüneburg geboren. Die Familie ihrer Mutter Tony war seit den 1860ern in Lüneburg ansässig: Damals war Ruths Urgroßvater Theodor Philipp als junger Religionslehrer in die Stadt gekommen. Er sollte über 40 Jahre bleiben, wurde Rückgrat und Ruhepol der Synagogengemeinde, Vertrauter und Schachpartner Marcus Heinemanns, Begründer einer Lüneburger Familie. Sein Sohn, Ruths Großvater Semmy Philipp, studierte Zahnmedizin und ließ sich dann in der Stadt seiner Kindheit nieder. Selbstverständlich arbeitete auch Semmys Tochter Tony in der Praxis mit und heiratete einen Zahnarzt: Paul Marx, der aus Süddeutschland nach Lüneburg kam und dort Juniorpartner seines Schwiegervaters wurde. Die Dinge liefen gut in dieser Zeit, die Praxis wuchs und war sehr beliebt. Ruth und ihre kleine Schwester Ellen kamen zur Welt, zwei süße kulleräugige Prinzessinnen, die in einem großen, modernen Haus im Roten Feld aufwuchsen. Sie hatten eine unbeschwerte Kindheit, mit häufigen Besuchen im Kurpark, fröhlichen Kindergeburtstagen und Kostümfeiern. 1933 wurde Ruth in der Grundschule im Wilschenbrucher Weg eingeschult. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie aus einer jüdischen Familie kam - und deswegen von nun an als „anders“ galt, nicht mehr dazugehörte, gemieden wurde.

Lüneburg war für Ruth Lustig der Ort ihrer märchenhaften Kindheit – und zugleich ihres großen ersten Schmerzes. Die Nazis machten mobil gegen alles Jüdische, nicht zuletzt gegen jüdische Ärzte. Ruths Eltern mussten unter Druck ihr Haus in der Kefersteinstraße verkaufen und in die Ilmenaustraße zu den Großeltern ziehen. Die Familie Philipp/Marx reagierte rasch, schneller als viele andere, und verließ NS-Deutschland 1936 in Richtung Palästina. Dort brauchte man Zahnärzte. Die Lüneburger konnten sogar noch einen Teil ihrer Ausrüstung mitnehmen und kurz nach der Ankunft wieder eine Praxis eröffnen: nun in Haifa am Berg Carmel statt in Lüneburg an der Ilmenau, beengt in der eigenen Wohnung statt in großen modernen Praxisräumen. Es war ein harter Bruch für die Familie, die Großzügigkeit und Leichtigkeit des Lüneburger Lebens war vorbei. Semmy Philipps Frau Flora war kurz vor Besteigen des Schiffes in Hamburg an einem Herzinfarkt gestorben, die Familie musste sie unter enormem Druck dort beerdigen. Auch Semmys Schwester blieb mit Mann und Kindern in Hamburg zurück, eine Auswanderung gelang ihnen nicht mehr, sie wurden später deportiert und umgebracht.

Vor Ruth und ihre Familie lagen 1936 schwere Jahre des Neuanfangs in einem fremden Land.  Die Erwachsenen hatten in Haifa Probleme mit der Sprache, dem Klima, den materiellen Einschränkungen und der Sorge um die Angehörigen in Deutschland. Für die zehnjährige Ruth war es ein tiefer Einschnitt, aber nach eigenen Aussagen auch ein Abenteuer: sie fand bald Anschluss, lernte problemlos Hebräisch und fühlte sich in Palästina bzw. Israel nach einiger Zeit ganz zu Hause. Sie arbeitete in einer Zahnklinik, heiratete den Techniker Dan Lustig und bekam mit ihm zwei Söhne.

1995 gehörte sie zu einer Gruppe von Lüneburger Jüdinnen und Juden, die die Einladung der Stadt zu einem Besuch annahmen. Für das Buch „Jüdische Familien in Lüneburg“ von Sibylle Bollgöhn schrieb sie damals ihre Erinnerungen auf: „Sie fragen mich, was mir einfällt, wenn ich an Lüneburg denke. Die Antwort wird Sie sicher wundern oder vielleicht können Sie sie nicht verstehen: Eine alte, wunderschöne Stadt, in der ich eine herrliche Kindheit hatte. Und gerade deswegen habe ich eine große Wut in mir, daß all das geschehen konnte.“

Als in den 2010er Jahren in Lüneburg das neue Museum geplant wurde, entstand ein Film über Ruth Lustig und ihre widerstreitenden in Bezug auf Lüneburg. Dafür reiste sie noch einmal in ihre Heimatstadt, zusammen mit Sohn Gideon. Es sollte das letzte Mal sein. Zur Einweihung der Synagogengedenkstätte 2018 wäre sie trotz ihrer 92 Jahre gern gekommen, schickte dann aber doch lieber ihre zwei erwachsenen Enkelinnen. Elektronisch war sie vom Altersheim in Haifa aus allerdings immer dabei: Per Videotelefon dirigierte Ruth Lustig die Enkelinnen zum Haus in der Kefersteinstraße – und dann, darauf bestand sie, nochmal rüber in den Kurpark, zum Gradierwerk, wo sie der Großmutter eine Fläschchen voll Sole abfüllen mussten. Ihr Leben lang sehnte sie sich nach diesem Geschmack ihrer Kindheit.

Ruth Lustig geb. Marx war eine der letzten Zeitzeuginnen der jüdischen Vorkriegsgemeinde Lüneburgs. Wir sind ihr sehr dankbar, dass sie ihre Erinnerungen und auch ihre Wut mit uns geteilt hat. Am 25. September 2025, einen Tag vor ihrem 99. Geburtstag, starb sie in Haifa. Bis zuletzt war sie geistig wach und voller Humor. Sie wird uns fehlen.

(Anneke de Rudder, 4.11.2025)

Zu den Informationen über Ruth Lustig

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